Als erstes erschien uns – wenig überraschend – eine norwegisch Flagge. Man kann es nicht leugnen: Norwegen verfügt über unglaublich viel Talent, Erfahrung und eine unerreichbare Tiefe. Wie Trainer Egil Kristiansen diesen Sommer sagte: „Norwegen wird immer Biathleten und Langläufer haben“ und kann aus einem Talente-Pool auswählen. Tiefe? Norwegens Scouts sicherten die ersten fünf Plätze in der IBU-Cup-Gesamtwertung. Und auch im Weltcup holte Norwegen die Ränge eins bis fünf!
Auch das erste Gesicht, das in der Kristallkugel erschien, war uns wohl bekannt: JT Boe. Der regierende Biathlonkönig wird wohl seinen Thron behalten. JT ist quasi der gesamten Konkurrenz immer einen Schritt voraus, läuferisch, taktisch und meistens auch am Schießstand. Obwohl er in der vergangenen Saison weniger Siege eingefahren hat – „nur“ 11 im Gegensatz zu 19 in der Saison 2022/23 – hängt er die Latte für die anderen Athleten noch immer hoch. Doch seine Verfolger kommen näher und der fünfmalige Weltcupgesamtsieger muss dringend wieder eine Trefferquote von über 88 % erreichen. Boe trainierte dieses Jahr die meiste Zeit zu Hause und war bei der Saisoneröffnung mit den Rängen 10 und 17 sowie zwei bzw. fünf Fehlern nicht überragend. Unzufrieden mit seiner Leistung gestand Boe ein, müde zu sein und „mehr Ruhe und Schlaf“ vor Kontiolahti zu benötigen. Doch JT mit derzeit 73 Weltcupsiegen wird bereit sein, Ole Einar Björndalens Rekord von 94 Siegen zu jagen, sobald die Weltcupsaison beginnt.
In der vergangenen Saison war JTs älterer Bruder Tarjei sein schärfster Konkurrent, stand mit ihm zusammen mehrmals auf dem Treppchen und griff sogar Platz eins an. Tarjeis zweiter Platz in der Gesamtwertung und sein Sieg in der Sprintwertung 2023/24 markierte seine zweiterfolgreichste Saison nach seinem Weltcupgesamtsieg 2020/11. Wie sein Bruder verbrachte auch Tarjei die meiste Zeit im Sommer getrennt von der Mannschaft. Er heiratete und genoss die Zeit mit seiner Familie. Vor seiner 16. Weltcupsaison sieht Tarjei erneut aus wie ein ernstzunehmender Konkurrent, aber die vergangene Saison noch zu toppen, könnte für den 36-Jährigen schwierig werden.
Sturla Holm Laegreid war drei Jahre hintereinander Zweiter in der Weltcupgesamtwertung, bevor er letztes Jahr auf Platz vier rutschte. Vor allem seine Trefferquote fiel von 91 % auf 87 %. Diese vier Zähler sind entscheidend für den Erfolg. Selbst in einer schwachen Saison schaffte Laegreid ein Highlight mit dem Gewinn der Goldmedaille beim IBU WM-Sprint und seinen Siegen im Einzel und Massenstart in Oslo zum Saisonabschluss.
Johannes Dale-Skjevdal und Vetle Sjaastad Christiansen liegen noch etwas zurück. Dale-Skjevdal feierte ein Comeback aus dem IBU Cup mit sechs Treppchenplätzen. Obwohl er bei der Saisoneröffnung nicht gut aussah, wird er wohl bei Großereignissen wie den WM-Rennen für Überraschungen sorgen.
Christiansen ist läuferisch überragend. Nachdem er für Oberhof nicht in die Weltcupmannschaft berufen wurde, kam er mit einem Paukenschlag zurück, traf 29 von 30 Scheiben und sicherte sich die Plätze eins und zwei in Sprint und Massenstart von Ruhpolding. Diese Saison begann er in Sjusjoen mit einem fehlerfreien Sprintsieg und einem zweiten Platz im Massenstart mit zwei Fehlern. Der 32-Jährige ist vielleicht der am besten vorbereitete Norweger vor Kontiolahti. Christiansen ist läuferisch stabil. Wenn seine Schießleistung passt, kann ihn niemand aufhalten.
Neben den Norwegern tauchten noch andere Gesichter in unserer Kristallkugel auf, darunter Emilien Jacquelin, der mit 550 Punkten hinter JT und 105 Punkten hinter Christiansen Rang sechs in der Gesamtwertung belegte. Doch der französische Starathlet hegt große Hoffnungen nach sieben Top-Ten-Ergebnissen und drei Podiumsplätzen in der vergangenen Saison. Er gewann auch den Sprint bei den französischen Sommermeisterschaften im Oktober. Jacquelin war außerdem mit Platz sechs und zehn in Sjusjoen zufrieden. „Meine Form ist da. Da ist ein gutes Zeichen für die Zukunft.“ Wenn Jacquelin in Kontiolahti seine Leistung aus Sjusjoen wiederholt, könnte er die norwegische Dominanz brechen.
Der Weltcupgesamtsieger von 2022, Quentin Fillon Maillet, konnte in den Titelkämpfen der letzten zwei Saisons keine Lorbeeren erringen. Doch er fühlt sich gut vorbereitet. Nach zwei Siegen bei den französischen Sommerwettkämpfen im Oktober gab er „einige Fehler“ in seiner Vorbereitung in den vergangenen zwei Saisons zu. Doch er ist selbstbewusst. Der französische Star war „mit einigen Dingen sehr zufrieden“ nach Platz neun im Massenstart von Sjusjoen. Fillon Maillet hatte in einem Interview mit dem Nordic Magazine gesagt, dass er in Lenzerheide eine Einzelgoldmedaille holen will. Außerdem meinte er, ein „Platz in der allgemeinen Wertung (Weltcupgesamtwertung) wird ein echter Kampf“. Sollte Fillon Maillet eine Trefferquote von 89 % wie 2022 gelingen, sind seine Ziele keine Tagträume.
Neben dem französischen Duo tauchte auch Sebastian Samuelssons Gesicht in der Kristallkugel auf. Sein jährliches Ziel ist es, JT Boe herauszufordern und seinen norwegischen Konkurrenten „aus der Komfortzone“ herauszuholen. Samuelsson zeigte einen brillanten Sprint in Idre und setzte sich mit einem Fehler 56 Sekunden vor den Rest des Feldes. Mit einer derartigen Leistung und Laufstärke wird Samuelsson JT erfolgreich ärgern können.
Neben den Genannten gibt es aber noch weitere vielversprechende Kandidaten: Die jungen Athleten Tommy Giacomel und Eric Perrot zeigten eindrucksvolle Leistungen in Sjusjoen mit Top-Ten-Platzierungen. Philipp Nawrath aus Deutschland schlüpfte in der letzten Saison ganz kurz ins Gelbe Trikot – und ist dieses Jahr hungrig nach mehr. Viele Herren haben Talent und Potenzial. Doch am deutlichsten wehte in unserer Kristallkugel nach wie vor die norwegische Flagge.
Fotos: IBU/ Christian Manzoni, Nordic Focus