Saison 2022/23: Die Favoriten

Der dreifache BMW IBU Weltcup-Gesamtsieger Johannes Thinges Bö sagte kürzlich: „Ich bin von Tag zu Tag mehr gestresst, aber ich freue mich auch jeden Tag mehr darauf vor, wieder anzutreten, und auf die Wettkampfstimmung.“ Damit spricht er so kurz vor Saisonbeginn vermutlich auch seinen Kontrahenten aus der Seele: Stress, Vorfreude und ein bisschen Unsicherheit, und vor allem der unbedingte Wille, das gelbe Trikot zu erobern.

Die drängendste und gleichzeitig komplexe Frage ist: Kann Quentin Fillon Maillet eine zweite Kristallkugel in Folge gewinnen, kann sich JT den Platz an der Spitze zurückerobern – oder wird es eine herausragende Saison für einen Dritten, der alle anderen in den Schatten stellt?

Die Kandidaten

Sieben der zehn besten Männer aus der Weltcup-Gesamtwertung der letzten Saison treten auch in diesem Jahr wieder an: Fillon Maillet, Sturla Holm Laegreid, Sebastian Samuelsson, Vetle Sjaastad Christiansen, Emilien Jacquelin, Tarjei Bö und Benedikt Doll (Plätze 1 - 6 plus Doll auf 8). Nachdem er seine Saison nach Peking vorzeitig beendet hatte, wurde Johannes Bö 13. in der Gesamtwertung, hätte es aber locker in die Top 10 geschafft, wäre er auch im letzten Trimester angetreten. Damit haben schon 8 Männer ihren Hut in den sprichwörtlichen Ring geworfen.

Header icon2022/23 Season Preview: The Men to Watch

Der Favorit

Fillon Maillet, der bei der Saisoneröffnung in Kontiolahti in Gelb antreten wird, ist der klare Favorit für den Sieg, und der wird ihm nicht leicht zu nehmen sein. Seine zehn Siege in der vergangenen Saison bei 16 Podestplatzierungen insgesamt sprechen für sich. Niemand sonst konnte mehr als drei Siege einfahren. In Sachen Treffsicherheit machte dem französischen Star kaum jemand etwas vor: An 17 Tagen blieb er ohne Fehler, Staffeln eingerechnet, und hatte eine Trefferquote von 89 %. Fillon Maillet bewies obendrein Standfestigkeit und Ausdauer wie ein „Ironman“, stand er doch bei jedem Einzelrennen und in jeder Staffel außer in Ruhpolding und Antholz am Start. Bekannt ist er als der „König der Rennen mit vier Schießen“, und doch sackte er nebenbei zwei Sprintsiege ein, womit er bewiesen hatte, dass er auch die nötige Vielseitigkeit mitbringt. Fillon Maillets größte Stärken sind sein unbezwingbarer Wille und die ruhige Entschlossenheit, den Gesamtweltcup zu gewinnen. Der Mannschaftsführer der Franzosen konnte das Martin Fourcade Nordic Festival für sich entscheiden und hat, soweit bekannt, einen soliden Trainingssommer ohne gesundheitliche Probleme absolvieren können. Zum Saisonstart stehen ihm also alle Türen offen...

Sturla

Laegreid konnte seine fulminante Auftaktsaison von 2020/21 nicht wiederholen, schaffte es aber zum zweiten Mal in Folge auf Rang zwei in der Gesamtwertung. Wenn irgendjemand bereit ist, Fillon Maillet anzugreifen, dann ist es der 25-jährige Norweger. Laegreids Trefferquote sackte in der letzten Saison von übermenschlichen 92 % auf normale 86 %. Dadurch kam es zu ein paar eher mäßigen Resultaten (37. im Sprint von OSD, 21. im Massenstart von ALGB, 22. im Sprint von KON), was seiner Saison schadete. Trotzdem ist Laegreid, der die Formschwäche im zweiten Jahr jetzt hinter sich hat, weiterhin hochtalentiert, motiviert und wild entschlossen, die große Kristallkugel in die Finger zu bekommen. Wie JT kann Laegreid den Saisonstart kaum erwarten, wie er kürzlich auf Instagram postete: „Können wir das Warten jetzt einfach überspringen und mit der Saison loslegen?“

Sebbe

Samuelsson stellte im letzten Jahr unter Beweis, dass er von November bis März immer um Podestplätze mitlaufen kann. Er startete mit einem starken ersten Trimester und zwei Sprintsiegen zuhause in Östersund in seine Saison. In Oslo, als er mit Laegreid um Rang zwei in der Weltcup-Gesamtwertung kämpfte, schaffte es der Schwede auf Platz drei und vier, nicht ganz so gut wie sein Konkurrent, aber gut genug, um mit Platz drei in der Gesamtwertung noch die beste Platzierung seiner Karriere herauszuholen. Samuelsson war die ganze Saison über stark auf der Strecke, aber die Trefferquote von 83 % reichte nicht ganz aus, um noch mehr Podestplätze einzufahren. Er scheint in diesem Jahr zum Großem bereit zu sein, geht man nach seinen zwei Goldmedaillen und einer Silbermedaille mit 50 Schuss und 45 Treffern bei der IBU SBWM. Der schwedische Cheftrainer Johannes Lukas ist ausgesprochen zuversichtlich, was Samuelssons Siegchancen angeht. „Sebbe ist vermutlich der verrückteste Athlet, den ich kenne. Er hat schon im Mai mehr Zeit auf seinem Skiroller-Laufband verbracht als die meisten anderen in der gesamten Saison... Wenn er mit seinen Kräften haushalten kann, gibt es nicht viele Männer, die ihn schlagen können.“

Vetle

Christiansen schob sich mit zwei Siegen im ersten und dritten Trimester in die vorderen Ränge der Weltcup-Gesamtwertung; für ihn die bislang beste Platzierung seiner Laufbahn. Seine Trefferquote verbesserte sich auf 88 % für die Saison. Im letzten Trimester verfehlte Christiansen bei 120 Schuss nur sechsmal. Schafft er es, bei seinem Lauftempo die ganze Saison über so zu schießen, ist für ihn alles drin. Der Sommer ist für ihn nach Plan gelaufen und brachte ihm drei weitere Podestplätze beim Blinkfestivalen für seine Statistik ein. Christiansen ist kein Außenseiter mehr, er ist eine feste Größe geworden.

Johannes Thingnes Bö

Für ihn gibt es zum Saisonstart nur ein Ziel: Die Rückkehr an die Spitze, sonst nichts. Die Grundlage dafür ist eine lange Ruhe- und Erholungspause nach Peking. Der dreizehnte Platz in der Gesamtwertung des letzten Jahres wird ihm in diesem Jahr nicht reichen. Immerhin hat er zusätzlich noch vier olympische Goldmedaillen und eine Bronzemedaille vorzuweisen, hat den Elementen getrotzt, dem Druck standgehalten und bei seinen Siegen wahre Größe bewiesen. Nach einer Saison mit einer Trefferquote von 84 % hat er sich in diesem Sommer auf sein Gewehr konzentriert: „Ich habe über nichts anderes nachgedacht. ... Es ist mein größter Wunsch, ein besserer Schütze zu werden.“ Was seine Dominanz auf der Strecke angeht, ist JT weiter unbesorgt. Wenn sich sein Schießen wirklich deutlich verbessert, ist ein Showdown zwischen ihm und seinen Rivalen zu erwarten. Die Saison zum vierten Mal im gelben Trikot zu beenden bleibt das erklärte Ziel des knapp 30-Jährigen. „Das ist das Ziel, das Hauptziel. In unserem Sport habe ich das immer als den ultimativen Sieg betrachtet. Man ist über das ganze Jahr gesehen der Beste.“

Quertreiber: Jacquelin, Tarjei, Doll

Wieder einmal drängelt sich dahinter ein dichtes Feld talentierter Männer mit guten Chancen auf einen Podestplatz, die mit einer guten Saison den fünf Favoriten einen Strich durch die Rechnung machen können. Allen voran sind das Jacquelin, Tarjei und Doll. Der enigmatische Jacquelin hat die Fähigkeiten und den Ehrgeiz, viele Rennen und das gelbe Trikot zu gewinnen, ihm mangelt es aber an Konstanz am Schießstand. Die letzte Saison beendete er mit einer Trefferquote von 82 %, 3 Punkte unter der Leistung der zwei Vorsaisons. Wenn er einen Lauf hat, kann er Jacquelin fünf Scheiben umnieten wie ein Superheld und ist auf der Strecke uneinholbar. Für die letzte Saison ist vielleicht die OP am Handgelenk eine mögliche Erklärung für nur einen Tag mit fehlerfreiem Schießen. Stabiles Schießen, Konzentration und seine Laufstärke könnten ihm einen dritten Weltmeistertitel in der Verfolgung und noch einiges mehr einbringen.

Tarjei hat im letzten Jahr einige Ziele erreicht: Die ersten Einzelmedaillen bei Olympischen Winterspielen und seine zweite kleine Kristallkugel im Einzel. Seine Trefferquote war mit 86 % gut; oft ließ er nur eine Scheibe stehen. Zugegebenermaßen hat der ältere Bö vermutlich nicht das Zeug dazu, die Weltcup-Gesamtwertung anzuführen, aber er hat die Fähigkeiten und die Erfahrung, die Favoriten permanent herauszufordern und an guten Tagen ein oder zwei Siege einzufahren, mit denen er den sechs bis acht jüngeren Rivalen das Leben schwermachen dürfte.

Auch Doll hat sich wie Tarjei nach der Geburt seines ersten Kindes eine Auszeit genommen und kann vielleicht nicht um die große Kristallkugel mitlaufen, kann aber in jeder Woche punkten. Der 32-Jährige lieferte im letzten Jahr eine ordentliche Saison ab: Der erste Sieg nach über zwei Jahren beim Massenstart in Antholz zeigte, dass sich sein Schießen verbessert hatte.

Die Joker: Andersen und Perrot

Im Feld verbergen sich noch einige Joker, die gute Siegchancen haben. Zunächst einmal wäre da der IBU Sprintweltmeister und olympische Silbermedaillengewinner im Massenstart Martin Ponsiluoma. Der Schwede ist auf der Strecke eine Bank, muss es aber auf eine Trefferquote in den mittleren 80ern schaffen, um konstant Podestplätze einzufahren. Johannes Kühn ist auf der Strecke ähnlich dynamisch und gewann im letzten Jahr den Sprint von Hochfilzen. Mit besserem Schießen könnte auch er mehr Siege einfahren.

Dann gibt es unter den Jokern noch zwei Nachwuchstalente: Filip Fjeld Andersen und Erik Perrot. Andersen schaffte es in seiner ersten vollen Saison (mit Ausnahme von Östersund) bei den Senioren zweimal aufs Podest, schoss bei 80 % und beendete die Saison mit drei soliden Top-20-Platzierungen in Oslo. Sein Talent und ein weiterer Trainingssommer könnten für mehr Podestplätze und eine Top-10-Platzierung in der Weltcup-Gesamtwertung reichen. Auch wenn Perrot erst 17 Weltcup-Starts absolviert hat und es erst für eine Top-10-Platzierung gereicht hat, ist der bei der IBU JJWM zweifach dekorierte Nachwuchs-Biathlet auf der Überholspur zum Erfolg. Er konnte bei den französischen Meisterschaften im vergangenen Monat einen Titel holen und wurde bei weiteren französischen Sommerwettkämpfen zweimal Zweiter. Sich mit seinen älteren Mannschaftskameraden zu duellieren und sie gar zu besiegen, wenn auch im Sommer, ist ein klares Zeichen, dass Perrot bereit ist für den Weltcup.

Einen weiteren Aspekt gilt es bei der bevorstehenden Saison noch zu bedenken: Die Regeländerung, mit der die Streichresultate wegfallen und die Punktwertung sich verändert. JT dazu: „Neues System, neue Punktevergabe ... Ich glaube, es wird sich früh zeigen, wer eine Chance (auf das gelbe Trikot) hat. ... Einige konzentrieren sich vielleicht auf die Weltmeisterschaften, wenn sie merken, dass sie um die Kristallkugel nicht mitlaufen können. Aber für viele liegt der Fokus auf dem gelben Trikot, das heißt, die müssen also in jedem Rennen und den Staffeln antreten. Das Schlimmste an diesem System ist, dass manche dann in Staffeln nicht antreten werden, um die Kräfte zu schonen. ... Das dürfte interessant werden.“ Es bleibt spannend...

Fotos: IBU/Christian Manzoni, Vianney Thibaut

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